Es war einmal eine sehr,
sehr alte Seele, die sehr, sehr viele Menschenleben auf der Erde gelebt hatte und deren Dasein
als Seele jetzt ebenfalls fast zu Ende war, ja, bald würde sie mit der EWIGKEIT verschmelzen
und ein Teil davon werden.
Im Augenblick saß die alte Seele in der Leere zwischen ihrem letzten Menschenleben und
ihrer künftigen VERSCHMELZUNG und fühlte sich ein wenig einsam. Ihre besten Freunde
waren auf und davon, die alte Seele konnte sie unten auf der Erde sehen, wie jede von ihnen
einen Menschen mit Eifer, Neugier und Staunen und den verschiedensten Gedanken erfüllte.
Ich will dorthin, sagte die alte Seele. Ich habe immer noch eine ordentliche Portion Freude
übrig. Ich will dorthin und sie ihnen schenken.
Aber die Zeit, die dir vor der VERSCHMELZUNG bleibt, ist so kurz, warnte der WÄCHTER.
Natürlich kannst du ihnen Freude schenken, aber wenn du nur so kurze Zeit bei ihnen bleibst,
schenkst du ihnen zugleich eine große Trauer, wenn du sie verläßt.
Ich weiß, sagte die alte Seele. Aber ich will es trotzdem, Ich will ihnen so viel Freude
schenken, dass sie ihnen danach über die Trauer hinweghilft.
Dann soll es so sein, wie du willst, sagte der WÄCHTER und schickte die sehr, sehr alte
Seele los.
Daraufhin bekamen ein Mann und eine Frau auf der Erde ein Kind, das sie sich schon lange gewünscht
hatten. Es war ein allerliebstes Kind, das ihnen vom Tag seiner Geburt an Freude bereitete,
jene ungetrübte Freude, die die Menschen empfinden, wenn ihre Seelen einander begegnen
und sich voller Entzücken aus der EWIGKEIT wiedererkennen.
Aber bleibt dir nicht nur wenig Zeit? flüsterte die Seele der Mutter der alten Seele in
dem kleinen Mädchen zu.
Die Zeit ist kurz, aber die Freude ist groß, antwortete die alte Seele.
Und obwohl die Mutter dieses Gespräch nicht hörte, weckte das Geflüster eine
ahnungsvolle Unruhe in ihr, einen Hauch des Wissens, dass wir nichts auf der Erde besitzen,
einer den anderen nicht und nicht einmal uns selbst. Alles wird uns schließlich genommen
werden, alles, was wir mit uns tragen, alle Lieben um uns herum, schließlich auch unser
Leben und unser Körper.
Aber das Mädchen wuchs heran, und die Freude, die es verbreitete, war so groß, dass
die Mutter diese Gedanken vergaß. Und der Vater freute sich ebenfalls. Ja, die sehr alte
Seele durfte ihre letzte Zeit genauso verbringen, wie sie es sich gewünscht hatte.
Aber die Zeit war kurz, auch nach menschlichem Maß war sie kurz, und der Augenblick kam,
da die VERSCHMELZUNG stattfinden würde. Die sehr, sehr alte Seele erhielt den Ruf, dass
sie sich unverzüglich zur Zeremonie einfinden solle, und musste gehorchen.
Für die Menschen sah es so aus, als hätte ein plötzlicher Tod das Mädchen
ereilt. Ihre Trauer war maßlos, genau wie der WÄCHTER es vorhergesagt hatte.
Und wo man früher die sehr, sehr alten Seelen ihr letztes Häppchen Zeit einfach in
der Leere hat absitzen lassen, bürgerte sich von nun an in der EWIGKEIT die Sitte ein,
dass die alten Seelen zu Menschen, die sie brauchten , geschickt wurden, um ihnen ihre letzte
große Freude zu schenken. Die Freude gibt den Menschen die Kraft, die anschließende
Trauer, die unausweichliche Trauer, zu ertragen und allmählich in etwas Gutes zu verwandeln.
(Ausschnitt
aus dem Buch "Du fehlst mir, Du fehlst mir!" von Peter Pohl & Kinna Gieth)