Diesen Brief, habe ich irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, in dieser schrecklichen Zeit kurz nach ihrem Tod an Anna geschrieben. Ich fand ihn jetzt bei den vielen Texten und Fotos, die Regina bei der Erstellung der Homepage gesammelt hatte. Ich glaube wir können ihn in die Homepage aufnehmen und vielleicht wird es nicht der letzte Brief sein, den ich an Anna schreibe, denn es hilft mir, wenn mir wildfremde Menschen schreiben, sie fühlen und denken ähnlich und "der geteilte Schmerz ist der halbe Schmerz."

Jeder versucht seinen Schmerz auf eine anderen Art und Weise zu bewältigen, die einen schreiben Gedichte, die anderen Bücher und viele errichten diese wunderschönen Gedenkseiten, die diese wunderbaren Menschen zeigen und man weiß, das ist Anna, das ist Oliver, das ist Lars, das ist Yannis, das ist Dani, das ist Christian, das ist Stefanie, das ist Jan, das ist Gerald, das ist Holger, und noch so viele mehr.

Meine liebste Anna,

Ich sitze an meinem Schreibtisch in unserem neuen Büro, das Du Gott sei Dank auch noch gesehen und wunderschön gefunden hast. Inzwischen ist es vollständig renoviert. Ich habe mich mal wieder für eine etwas besondere Farbe für die Wände entschieden, was Du ja auch immer toll fandest und mich und meine verrückten Ideen auch oft unterstützt hast. Denke nur an die "Wiesentapete" in unserer neuen Küche. Ich bin immer so stolz darauf, wenn Du Deinen Freunden erzählt hast, "meine Mutter hat sich mal wieder für etwas -ein bisschen beklopptes- entschieden". So auch der Zaun in unserer Küche, vor dem hässlichen Heizkörper. Ich habe Deinen kleinen Alfa ausgeliehen und bin zu OBI gefahren, habe die Heckklappe aufgelassen und habe dieses sperrige Ding zu uns nach Hause transportiert. Diese Aktion hat Dir so gut gefallen, dass Du erstmal allen anderen davon erzählt hast. Ich bin so froh, dass Du alle diese Erneuerungen, unter anderem auch Dein wunderschönes, neues Zimmer noch genießen konntest und ich werde nie Deine Worte, sei es Kritik oder Zustimmung zu diesem oder jenem Ding, vergessen.

Ich krame dauernd in meinem Gedächtnis um mich an Dinge zu erinnern, die Du gesagt oder getan hast und die mir helfen sollen, Dich immer bei mir zu haben.

Ich hoffe, dass Du jetzt über meine Schulter schaust und diesen Brief an Dich liest. Nicht weil der Brief etwas wichtiges beinhaltet, sondern weil ich gerne hätte, dass Du mir über die Schulter schaust, so wie Du früher auch immer neben mir gestanden hast und mir zugeschaut hast, wenn ich für Euch was genäht habe, oder Tiffany-Lampen und Fensterbilder hergestellt habe.

So geht es mir auch wenn ich zum Himmel schaue, liebste Anna. Dann versuche ich in jeder Wolke Dein Gesicht zu sehen oder irgend ein Zeichen zu finden, dass darauf hindeuten könnte, dass Du uns siehst und es Dir wirklich gut geht, so wie es viele, die uns trösten wollen, behaupten.

Jetzt sitze ich natürlich hier und musste mir erstmal von Deinem liebsten Papa mehrere Taschentücher holen, obwohl er meinte, 2 Stück müssten wohl reichen. Na ja, Du kennst ja seine Scherze, die Du mit Deinem liebevollen Humor immer sehr zum Lachen fandest.

Katrin hängt gerade Akten in die Schränke und ist wahrscheinlich auch traurig, weil ich weine. Sie hat ja gerade bei uns ihre Lehre angefangen, als sich unser Leben so schrecklich verändert hat. Sie lächelt immer ganz dankbar, wenn wir ab und zu mal wieder etwas fröhlicher sind, was wir auch immer so gern alle zusammen waren.

Ich muss oft an den Buchtitel "Mich wundert es, dass ich so fröhlich bin" (oder so ähnlich) denken. Dann frage ich mich, wie es möglich ist, dass wir manchmal so einfach zum normalen Leben übergehen und sogar lachen können. Aber es ist leider so, dass kein Protest und keine Rebellion im mindesten hilft. Versucht habe ich es und ich glaube viele andere, die Dich lieben, auch.

Gestern habe ich in einer Zeitung einen Bericht gelesen, dass Forscher davon überzeugt sind, dass es noch ein Leben nach dem Tod gibt. Sie haben Leute, die nach einem Hirntod wieder reanimiert wurden, befragt und diese hatten Erinnerungen an ein schönes wohliges Gefühl. Sie haben ein helles Licht und Verwandte und Bekannte gesehen. Ich würde mir nichts sehnlichster wünschen, als dass es Dir gut geht und Du ein schönes, zweites Leben führst und wir Dich zwar nicht sehen können, Du aber immer in unserer Nähe und bei uns bist.

Ich denke immer daran, dass Basti zu Dir gesagt hat, falls Dir nach Deiner Operation irgend etwas ganz doll weh tut oder Du vor irgend etwas Angst hast, sollst Du an etwas Wunderschönes denken. Die Ärzte haben uns auch immer wieder gesagt, dass Du etwas gegen die Schmerzen bekommst und gegen die Angst hast Du denke ich Beruhigungsmittel bekommen. Manchmal möchte ich noch mal zur Intensivstation gehen und alle, die bei Dir waren fragen, ob sie immer lieb mit Dir waren und Dir Deine Schmerzen und Ängste genommen haben, natürlich auch mit Medikamenten.

Wir konnten ja nicht immer bei Dir sein, vor allen Dingen, weil wir auch nach diesen schweren Operationen wussten, dass es noch eine lange Zeit dauern würde, bis Du Dich wieder richtig erholt hast und da mussten wir unsere Kräfte auch ein bisschen schonen. Wenn wir gewusst hätten, dass Du stirbst, wären wir wohl nur von Deinem Bett gewichen wenn es unbedingt sein musste. Dies war ja leider schon oft genut der Fall, bei allen "Übergaben" Visiten etc. Als Du uns noch sehen und fühlen konntest und Du Dich durch Hand- Mund- und Augenzeichen bemerkbar machen konntest war ja auch noch alles so weit in Ordnung. Selbst Dein Humor und Schalk blitzte aus Deinen Augen. Deine Schmerzen konntest Du Dir noch selber durch eine "Schmerzpumpe" nehmen. Diese Zeit auf der Intensivstation macht mir bei allem Schmerz darüber, dass Du nicht mehr bei uns bist noch am meisten Sorgen. Ich überlege immer, an welchem Tag, und wie, wir uns noch verständigt haben. Am meisten leide ich darunter, dass ich nicht weiß, ob Du gelitten hast und wusstest dass Du sterben musst und wir haben an Deinem Bett gestanden und haben es nicht gewusst, weil Deine Augen geschlossen waren und man uns gesagt hat, Du wärest "sediert. Manchmal saß eine Träne in Deinen Augenwinkeln und Papa hat sie Dir weggewischt und zu Deinem Pfleger gesagt, Du würdest weinen. Sie haben uns gesagt, dass Du nicht weinst, sondern dass dies vom Absaugen des Beatmungsschlauches kommt und Du keine Schmerzen oder irgend etwas spüren würdest.

Aber wir haben immer mit Dir gesprochen, weil uns gesagt wurde, Du könntest es hören. Also hoffe ich, dass Du unsere aufmunternden Worte gehört hast, aber keine Schmerzen und Angst empfunden hast. Vielleicht gebe ich eine Abschrift dieses Briefes an irgend jemanden, der mir diese Ängste nehmen kann. Am besten wäre es, Du könntest es durch irgend ein Zeichen, nicht wahr?

Ich schaue von meinem Schreibtisch in unserem neuen Büro direkt auf die Kirche
St.-Heinrich- und Kunigunde, in der Du getauft worden bist und wir Deine Kommunion gefeiert haben. Gerade jetzt kann ich auf das Kreuz schauen, da die Bäume davor noch nicht so viel Laub tragen. Dann wünsche ich immer ich könnte ein ganz gläubiger Christ sein und unsere ganze Familie wäre es und wir hätten es dann so gut wie Deine Oma, die mit Deinem Bild auf dem Schoß dasitzt und sagt "Anna geht es jetzt gut, sie ist bei Gott". Leider habe ich oft Zweifel, weil mein Verstand sagt, so kann das doch nicht sein. Dann denke ich wieder, dass alles, was unser Universum ausmacht irgend einmal von irgend wem erschaffen worden sein muss und dann glimmt ein ganz klein wenig Hoffnung auf, und ich hoffe Du stehst jetzt doch hinter mir am Schreibtisch und schaust mir über die Schultern.

Deine Mama.